Vom Kirchhof zum Friedhof – Zur Geschichte des Lienener Friedhofs
von Dr. Wilhelm Wilkens, Pfarrer i.R.
Am Totensonntag 1857, dem 22. November, wurde im Anschluss an den Gottesdienst der neue Friedhof eingeweiht. Das sind bald 150 Jahre her. Der alte, um die Kirche herum gelegene Friedhof wurde geschlossen, eingeebnet und mit den Linden bepflanzt, die der Dorfmitte bis zum heutigen Tag ihren Akzent geben. Zum neuen Friedhof kam es nach Jahrzehnten heftiger Auseinandersetzungen. Das Presbyterium weigerte sich beharrlich, vom alten Ort abzugehen. Es ist dem Engagement des Bürgermeisters Kriege zu verdanken, dass es dann schließlich doch zum neuen Friedhof kam.
Warum weigerte sich das Presbyterium, von der alten Begräbnisstätte abzugehen, wo doch die Zustände längst unhaltbar geworden waren? Der Grund war nicht das Schweineunwesen auf dem Kirchhof, dass die Tiere die Gräber verwühlten und gar Särge ans Tageslicht brachten. Seit 1689 wurde darüber Klage geführt. Dabei war der Kirchhof seit der Reformationszeit mit einer Mauer umgeben und mit verschließbaren Toren versehen, die aber immer wieder offen gelassen wurden. Man nahm es mit den Begräbnisstätten nicht so genau. Wir kennen dieses Problem auch aus anderen Gemeinden. Das eigentliche Ärgernis begann 1802/03: Nach der Vergrößerung des Kirchenschiffs reichte der kleiner gewordene Kirchhof für die wachsende Zahl der Beerdigungen nicht mehr aus. Das Presbyterium half sich mit der Praxis einer bauerschaftsweisen Beisetzung, wobei Sarg an Sarg gesetzt wurde. Von Superintendent Smend aber wird Klage geführt, dass schon am folgenden Tage von dem Grab nichts mehr zu sehen sei.
Wie hält eine Gemeinde solche Zustände jahrzehntelang durch? Die Antwort ist einfach: Weil man damals auf eine individuelle Grabkultur keinen Wert legte. Es gab keine Kränze, keine Blumen, keine Einfassungen der Gräber, keine Instandhaltung der Gräber, und Grabsteine setzte man nur in Ausnahmefällen. An der genauen Lage der Gräber waren die Menschen wenig interessiert. Nur eins war ihnen wichtig: Unsere Toten sind auf dem Kirchhof beigesetzt und wir wollen auch da hin. Allein die Kirche war der Identifikationsort für Lebende und Tote. Denn seit tausend Jahren waren hier die Vorfahren getauft, getraut und zur letzten Ruhe gebettet worden. Hier wollten auch die Lebenden einmal zu den Vätern versammelt werden, wie es im Alten Testament gelegentlich heißt.
Heute leben wir nicht mehr so ortsgebunden wie die Menschen der bäuerlichen Gesellschaft. Die Gräber unserer Angehörigen liegen seit 150 Jahren im Lande verstreut, je nachdem, wohin die Menschen Arbeit, Beruf und Familie verschlagen haben. So ist der Zug der Gemeinde am Totensonntag 1857 von der Kirche zum Friedhof, um diesen unter dem dort stehenden Kreuz einzuweihen, so etwas wie ein Zug aus der Heimat des Kirchhofs in die Fremde des neuen Friedhofs. Man ließ den tausendjährigen Kirchhof, die Nähe zur Kirche und zu den verstorbenen Generationen hinter sich zurück. Eine alte Tradition war zerbrochen. Das wog schwer und lastete auf den Menschen.
Diese Ortsveränderung vom Kirchhof zum Friedhof, die sich allenthalben in der damaligen Zeit vollzog, ist sozialpsychologisch folgenreich: Wenn die Gräber nicht mehr im Schutzraum der Kirche liegen, dann ist es von fast zwingender Konsequenz, dass wir – die Angehörigen – unseren Toten eine sichtbare Erinnerungsstätte geben. In der Heimatlosigkeit, in die hinein sich der Mensch im Tod ausgeliefert erfährt, gilt es fern von der Kirche ein wenig Heimat zu bauen, also Erinnerung festzumachen, wenn sie auch nur wenige Jahrzehnte reicht. So werden nun die Gräber individuell gestaltet und bepflanzt, ein Gedenkstein wird gesetzt. Zum Totensonntag werden die Gräber gesäubert und geschmückt.
Für die Alten waren die Toten als Tote nicht mehr wichtig. Sie ehrten sie als die, von denen die Geschichte des weitergehenden Lebens ausging, ehrten sie im Bedenken der eigenen Endlichkeit und der Gewissheit des Aufgehobenseins bei dem Gott, der ihnen und uns das Leben schenkte.