Die Geschichte der Lienener Frauenhilfe

von Gisela Wilkens

Im Jahr 1995 feierte die Frauenhilfe Lienen ihr 75-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass verfasste Gisela Wilkens, die Ehegattin des langjährigen Pfarrers der Kirchengemeinde, Dr. Wilhelm Wilkens, einen Abriss der Geschichte dieser Institution, die über viele Jahrzehnte unser Gemeindeleben wesentlich mitprägte. Sie selbst engagierte sich mit großem Einsatz in der Frauenhilfsarbeit, nicht nur als Vorsitzende der Lienener Gruppe, sondern auch bei der Organisation der regelmäßigen Zusammenkünfte und Ausflüge der bis zu 600 Mitglieder aus den damals sechs Bauerschaftskreisen.

Die Anfänge in Lienen

Die junge Pfarrfrau Else Smend, die mit ihrem Mann im Jahr zuvor in die Gemeinde gekommen war, begründete 1920 die Frauenhilfe in Lienen. Auf der Gründungsveranstaltung bei Strübbe-Fletemeyer wurde am 22.01.1920 der Vorstand gewählt: Frau E. Smend (Vorsitzende), Frau Hagedorn (Stellvertreterin), Fräulein Meiners (Kassiererin), Frau Schächter (Schriftführerin) und vier Beisitzerinnen (Schomberg, Krampe, Frers, Suhre). Als Gemeindepfarrer gehörte auch Pastor Smend zum Vorstand. Frau Smend: „Wir hoffen, dass sich jede Frau und Jungfrau der Gemeinde dem Verein anschließt, und wenn sie nicht als arbeitendes Mitglied an den Vereinsstunden (alle 14 Tage donnerstags, abwechselnd von 3-5 und 8-10 Uhr bei Strübbe-Fletemeyer) teilnehmen kann, sie doch wenigstens als zahlendes Mitglied dem Verein beitritt und einen jährlichen Beitrag zahlt, der in jeder Höhe entgegengenommen wird. Die Gründungsversammlung setzt ihn auf 1,25 Mk vierteljährlich fest.“ „Eine Gemeinde ohne Frauenhilfe, ohne helfende Hände, mittragende Herzen?“, das geht doch nicht!

Die Gründung der "Frauen-Hülfe" 1889 in Berlin unter dem Protektorat der Kaiserin Auguste Viktoria war eine Antwort auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, auf das Elend großer Teile der Bevölkerung infolge der Industrialisierung. Soziale Missstände bessern, die Liebesarbeit der Frauen organisieren, Barmherzigkeit üben, waren die Leitgedanken. Ein „soziales Netz“, wie wir es kennen, gab es noch nicht. Die Not der Alten, Armen, Waisen, Behinderten war auf die Initiative von Einzelnen und Gruppen angewiesen. So fühlte sich auch Frau Smend gefordert. „Jedenfalls gingen wir sofort tüchtig an die Arbeit. Es wurde Stoff gekauft, damit Hemden genäht werden konnten. Man nahm sie zugeschnitten mit und nähte sie zuhause. Im April waren schon 62 Hemden fertig und wurden verteilt. Aber nicht nur an Bedürftige in Lienen (22) , sondern wir schickten auch nach Soest in das Versorgungshaus 20 und an das Frauenheim Wengern 20. Wie schön, dass unser Blick gleich von Anfang über die Gemeinde hinausging und dass wir uns durch die Not in der Welt zur Hilfe rufen ließen.“

Die Westfälische Frauenhilfe am Anfang des 20. Jahrhunderts

Was verbirgt sich hinter dem Versorgungshaus in Soest und dem Heim in Wengern? Schon bald nach der Gründung der Westfälischen Frauenhilfe 1906 mit Sitz in Soest wurde die Notwendigkeit einer „Ausbildung freiwilliger Krankenpflegerinnen auf dem Lande“ erörtert und wenig später Kurse eingerichtet. 1913 gab es 375 freiwillige Helferinnen, 1922 822, 1931 1427. 1927 entstand als Konsequenz dieser Entwicklung die Soester Schwesternschaft, das 4. Diakonissenmutterhaus in Westfalen. Da die Schwestern nur ein kleines Taschengeld bekamen, mussten die Frauen der Frauenhilfe für die Verpflegung der Kursteilnehmerinnen sorgen. Ein weiterer Schwerpunkt war die „nachgehende Fürsorge“. Das beinhaltete pädagogische und geistliche Betreuung „sittlich gefährdeter“ Frauen und Mädchen, vor allem auch der Mädchen, die ein Kind erwarteten. Bis 1931 gingen 1500 Frauen, z.T. mit Kindern und Säuglingen, durch das Haus in Wengern. Dieses Haus wurde mit Säuglingskörbchen (13) und mit Säuglingswäsche unterstützt, wie Frl. Allerdisse notiert, aber auch mit Hemden und Geld. „Weihnachten 1920 schickten wir 100 Mk nach Wengern, 100 Mk an das Versorgungshaus in Soest, 60 Mk an die Frauenhilfe Soest. Sachpakete gingen nach Bethel, an ein Waisenhaus in Soest und Bedürftige in unserer Gemeinde, an Familien der Berliner Stadtmission.“

In den 20-er und 30-er Jahren kamen als neue Aufgabenfelder die Bezirksfrauenarbeit und die Müttererholungsfürsorge hinzu. Die Kirchengemeinde wurde in Bezirke von jeweils 20 bis 30 Familien eingeteilt, bei denen eine Bezirksfrau durch regelmäßige Besuche inneren und äußeren Nöten auf die Spur kommen und für Abhilfe verantwortlich sein sollte. In Soest werden bis heute Kurse durchgeführt, in denen Frauen auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Frau Smend: „Die getreuen Bezirksfrauen erhielten für alle möglichen Gelegenheiten in ihrem Bezirk (Hochzeiten, Taufen, Geburtstage, Krankenbesuche) Schriften, damit sie nicht mit leeren Händen kamen und ein guter christlicher Gruß in die Häuser kam.“

Die Leitung der Frauenhilfe war konservativ. Sie hat sich bis 1918 gegen das Frauenwahlrecht gewehrt: „Kinder, Küche, Kirche“ galten als die Lebensbereiche, für die Frauen aufgrund ihrer mütterlichen Natur zuständig waren. So sorgte man sich über den Geburtenrückgang. Mütterarbeit bedeutete „Rettung der deutschen, christlichen Familie und Sicherung der Zukunft des Volkes“. „Was hülfe es einem Volke, wenn es die Welt auch nur wirtschaftlich gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele und opfere sein Heiligtum, die Familie.“ Familienideologie? Von hier aus ist auch die Aufgabe der Mütterfürsorge zu verstehen. 1923 wurden „zersorgte, verhärmte, hungernde, abgearbeitete Frauen aus dem Ruhrgebiet“ nach Lienen eingeladen. Ab 1927 wird der Westf. Frauenhilfe das Heim Concordia in Siegen für Erholungszwecke zur Verfügung gestellt, 1928 kommt das Haus in Laggenbeck und ein 30-Bettenhotel in Bad Driburg dazu. 1450 Frauen nahmen 1925 an der Müttererholung teil. Über Müttererholung und Laggenbeck könnten die Lienener ein ganzes Kapitel schreiben (Schwester Lina, Kirschenfrauenhilfe, Kartoffel-, Eier-, Geldsammlungen, Rüst- und Erholungszeiten, Bezirksfrauentage usw.).

Frauenhilfe im Nationalsozialismus

Die Zahl der Mitglieder wuchs selbst in der Zeit des 3. Reiches von 250 (1932) auf 500 im Jahre 1939. Eine Auseinandersetzung mit der NSDAP war nicht zu vermeiden. Die Partei beanspruchte ja alle soziale Arbeit für sich. Frau Smend: „Selbstverständlich stellten wir uns mit hinein in das Winterhilfswerk und die Arbeit der NSV. Wir halfen mit bei der Werbung von Pflegestellen, kochten Obst und Gemüse ein. Wir wollten Zusammenarbeit. Ich wurde sogar zur Helferin des Kreiswohlfahrtsamtes bestellt. Aber bald schon wurden die Frauenhilfshelferinnen nicht mehr eingeladen. ... Frauen durften nicht in NS-Frauenschaft und Frauenhilfe sein. Kaffeetrinken, Unterhaltung, Ausflüge, Feiern und Handarbeit – als Formen der Gemeinschaft und gegenseitiger Stärkung – wurden verboten.“ Nur Bibelarbeit blieb erlaubt. Doch nur 5 Frauen traten aus. Beim Leiter der Gestapo in Münster erreichte Frau Smend, dass Kaffeetrinken erlaubt war, wenn der Anmarschweg vier Kilometer betrug. Auf ihren Protest wurden sogar Nummern des „Stürmer“, ein Hetzblatt gegen Juden, aus dem Ausstellungskasten entfernt.

Die Nachkriegszeit

Nach dem Zusammenbruch 1945 mussten 2000 Vertriebene untergebracht und mit dem Nötigsten versorgt werden. „Wir haben wieder gesammelt: Möbel, Geschirr, Petroleumlampen, Kistenbretter, aus denen Regale gezimmert wurden, Wäsche. Kleidung, – es fehlte ja an allem. Wir haben tausende von Kleidungsstücken ausgegeben, neben den Schuhen, der Wäsche, den Stoffen auch Lebensmittel. Aus der Schweiz erhielten wir 6 Nähmaschinen und konnten – wie schon 1932 – einen Nähnachmittag einrichten. Die Leitung übernahm Frau Elsner, Schneiderin und selbst Heimatvertriebene.“ Die Gemeindeschwesternstation wurde 1922 eröffnet, ab 1925 mit Wohnung im neuen Gemeindehaus. Schwester Emma und Anna Altesellmeier verkörperten hier ein Stück Frauenhilfe.

Von den Familienerholungszeiten in Haus Wolfgang auf Spiekeroog (1937-1939 und 1952-1958) wäre zu berichten, von den Paketaktionen in die DDR, später in die Patengemeinde (Ostberlin) und das Lager Friedland. Ebenso wurde die Missionsarbeit von Schwester Marta Albat in Namibia begleitet. Frau Smend pflegte auch die kulturellen Belange: Volkstanzkreis, Frauenchor und Kulturkreis, der für Konzerte, Vorträge und Schauspielaufführungen sorgte. Frau Smend war erfinderisch im Erschließen von Geldquellen. „Die Verlosungen und Versteigerungen brachten geschätzte Einnahmen, aber auch Eintrittsgelder bei den Konzerten und Aufführungen.“

Die Struktur der Frauenhilfsarbeit in Lienen

Als mein Mann und ich im Februar 1959 nach Lienen kamen, übernahm ich auf Bitte des Vorstandes (Schächter, Schnabel, Allerdisse, Richter, Hilgemann) den Vorsitz. Ich wurde in ein festes Konzept eingebunden und konnte nur mit der Zeit Änderungen vornehmen. Bei der Presbyterwahl 1960 wurden gleich zwei Frauen in das Presbyterium gewählt (Schnabel und Sander). Die Frauenhilfe umfasste damals 600 Mitglieder mit 50 Bezirksfrauen und 6 Frauenhilfskreisen. 1960 übernahmen Pastor Gronenberg und Frau die in ihrem Bezirk sich sammelnden Kreise Höste, Westerbeck und Holperdorp. Der Abendkreis Lienen lag schon vorher in ihren Händen. Die Kreise Lienen-Dorf, Holzhausen und Meckelwege blieben bei uns, dazu der neu gegründete Abendkreis Holzhausen-Meckelwege. Zu den regelmäßigen Versammlungen der verschiedenen Kreise kamen noch hinzu: Adventsfeier, Frühlingsfest, Verlosungsnachmittag, Treueehrungsfeier, Eröffnung der Winterarbeit, Weltgebetstag, Ganztags- und Halbtagsausflüge. Nicht selten kamen im Gemeindehaus 250 Frauen zusammen, zu den Ausflügen in den Bussen von Pellemeyer oft 120 Frauen. Bezirksfrauen holten die Grüße zu Geburtstagen und anderen Anlässen im Pfarrhaus ab.

Zeitaufwendig waren in den ersten 10 Jahren Vorbereitung und Abrechnung der Mütterkuren. Verschiedene Stellen waren anzuschreiben: Sozialamt, Kassen, Zentrale der Frauenhilfe. Auch war festzustellen, was die betreffende Frau selber zahlen konnte. Ab 1972 ging diese Arbeit in die Hände des Diakonischen Werkes über. Wichtig war mir die Zurüstung der Bezirksfrauen. In den ersten Jahren hielten wir hierfür Rüsttage in Laggenbeck, später im Gemeindehaus, machten auch eigene Bezirksfrauenausflüge als ein Dankeschön für die Arbeit der Frauen. Bei der Vorbereitung und Durchführung des Weltgebetstages wechselten sich die beiden Mütterkreise, spätere Abendkreise (seit 1928 bestand ein Kreis im Dorf, seit 1962 ein anderer in Holzhausen/Meckelwege) ab. So wurden sie hineingenommen in die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, Glaubenswelten und in die Probleme anderer Länder. Auch die Ausgestaltung von Basaren übernahmen die jüngeren Frauen. Der Erlös ging vor allem in die Patengemeinde in Ostberlin. Ein großer Basar, an dem sich fast alle Vereine Lienens beteiligten, war auf eine Initiative von Frau Ilse Kröner hin für ein Albert-Schweitzer-Kinderdorf bestimmt. Die Bereicherung unserer Feiern durch Musizieren und Aufführungen der Schulkinder darf nicht unerwähnt bleiben. An die Lehrerinnen Frl. Abke. Frau Doll, Frau Gischas, Frau Neubauer, später auch an die Chöre mit Petra Jäkel denken wir mit Freude und Dank.

Ende der 70-er Jahre versuchten wir im Vorlauf der Arbeit der späteren Diakoniestation die Nachbarschaftshilfe mit Schwester Ursula Stieneker aufzubauen. Wir fragten: „Wer braucht Hilfe?“, „Wer möchte helfen?“ 50 Frauen und Männer boten ihre Hilfe an.

Wandel des Frauenbildes

Langsam veränderte sich auch das Jahrzehnte hindurch einheitliche Bild der nur schweigenden und dienenden Frau. Frauen wurden selbstbewusster, kritischer, offener für die Fragen der Zeit. So sind die Themen „Frieden“, „anderer Lebensstil“ angesichts der Umweltzerstörung und der Ungerechtigkeit in der Welt, Gentechnik, aber auch das Eintreten für die Schwarzen in Südafrika („Kauft keine Früchte der Apartheid“) Zeichen für stärkeres politisches Bewusstsein. Zum Frauentag in Dortmund 1981 gestaltete Christine Fischer eine Batik mit den Aufgaben der Frauenhilfe, die jetzt in der Zentrale in Soest hängt. Die Lienener beteiligten sich mit einem Stand zum Thema Schöpfungsverantwortung. Die Themen des Frauentags lauteten: „Frauen lesen die Bibel mit eigenen Augen“, „Ich bin wer, wer bin ich?“ Frauen fragen nach sich selbst, nach ihrer eigenen Geschichte. Da ist nicht mehr nur die eine, die etwas weiß und sagt, da hat jede Frau etwas einzubringen aus ihren Erfahrungen. Frauen wollen nicht länger nur Wunden verbinden, sondern sich einmischen, wo es Wunden zu verhindern gilt.

Frauenhilfe heute

Welche Aufgabe hat Frauenhilfe heute? Die große Zeit der praktischen Hilfe zur Linderung von Not ist vorbei. Wohl gibt es immer wieder Teilbereiche, die sozialstaatlich oder diakonisch wenig abgedeckt sind, wo spontane Hilfe gefordert ist. Frauenhilfe will eine Gemeinschaft für Frauen sein, in der sie die biblische Botschaft für sich als Befreiung erfahren. Frauen wollen in solcher Gemeinschaft der Isolierung und Vereinzelung entgegenwirken. Sie wollen miteinander ihre Rolle in Kirche und Gesellschaft reflektieren, Perspektive für die weltweiten Probleme gewinnen, die gerade Frauen betreffen. Sie bedenken Lebensfragen wie Lebenssinn, Generationenkonflikte, Krankheit und Sterben. Sie tun dieses alles aus der Sicht der Frauen.

Die Frauenhilfe ist ein Verein. Sie sammelt Beiträge, die zum größten Teil nach Soest gehen. Damit werden die Arbeit der Müttererholung, die Werkstätten für Behinderte, Langzeitarbeitslose und psychisch Kranke, ein Frauenhaus und Projekte für Frauen in der 3. Welt unterstützt. Die Frauenhilfe gehört auch zur Weltfrauenkonferenz der UNO und kann gegen Missstände wie z.B. Sextourismus ihre Stimme erheben. So hat auch eine Vereinsstruktur ihre großen Vorteile.

Der Name "Frauenhilfe" hat seine Zeit gehabt. Das Anliegen, offen zu sein für die Nöte in der Nähe und in der Weite der Welt, bleibt bestehen.

Zehn Jahre nach dem 75-jährigen Bestehen wurde in einer Mitgliederversammlung am 16. Februar 2005 beschlossen, dass aufgrund der gesellschaftlichen und kirchengemeindlichen Entwicklungen die Frauenhilfe Lienen mit Wirkung vom 1. April 2005 aus dem Verband der Frauenhilfe in Westfalen austritt. Trotz dieser Veränderung wurde vereinbart, dass die Frauenhilfsfeste, -feiern und -ausflüge damit nicht aufhören, sondern als Gemeindefeste, -feiern und -ausflüge weiter durchgeführt werden  sollten. Auch die regelmäßigen Treffen fanden unter dem Namen "Frauenkreis" weiterhin statt. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass damit auch Nichtmitgliedern der Frauenhilfe und Männern die Teilnahme ermöglicht würde. Die Abendkreise waren von dieser Maßnahme nicht betroffen.